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„Wir müssen uns an neue Realitäten anpassen“

17.06.2024

Welche Konsequenzen sollten aus häufiger werdenden Extremwettern und Überflutungen gezogen werden? Darüber sprechen die LMU-Geographen Matthias Garschagen und Ralf Ludwig im Interview.

© picture alliance / dpa | Sven Hoppe

Die aktuellen Überflutungen in Bayern haben eine Spur der Verwüstung hinterlassen und wieder einmal vor Augen geführt, dass Extremwetter aufgrund des Klimawandels häufiger und intensiver werden. Die LMU-Geographen Professor Matthias Garschagen und Professor Ralf Ludwig untersuchen in aktuellen Projekten Ursachen, Dynamik und Folgen von Starkregenereignissen und Hochwasser, unter anderem in Bayern. Im Interview sprechen sie über Herausforderungen und Maßnahmen, um zukünftigen Hochwasserrisiken zu begegnen.

War das große Ausmaß der Überschwemmungen absehbar?
Ralf Ludwig: Die Absehbarkeit von solchen Ereignissen ist natürlich immer eine Frage der Perspektive. In diesem speziellen Fall wurde ja bereits im Vorfeld gewarnt, dass im östlichen Baden-Württemberg und westlichen Bayern mit starken Niederschlägen zu rechnen ist. Dass sie so extrem ausfallen, ist tatsächlich schwer zu prognostizieren. Insofern ist auch die Überraschung nicht verwunderlich, wenn das Ereignis dann so gravierend wird. Der auslösende Mechanismus, also die sogenannte Vb-Wetterlage, ist nicht unbekannt. Ganz im Gegenteil sind bei den sehr großen Flusshochwasserereignissen der letzten Jahrzehnte diese Wetterlagen in Südbayern immer maßgeblich gewesen. In Teilen Süddeutschlands ist das so oft zitierte 100-jährliche Hochwasserereignis in den letzten 25 Jahren nun fünfmal erreicht worden.

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Veränderungen von Hochwasserrisiken in Zeiten des Klimawandels

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Müssen wir jetzt in Bayern in Zukunft immer häufiger mit derartigen Überschwemmungen rechnen?

Ludwig: Im Projekt ClimEx untersuchen wir die Ursachen und die Dynamik von Extremereignissen in Bayern. Dr. Magdalena Mittermeier konnte in unseren Analysen zeigen, dass die Anzahl der Vb-Ereignisse nicht deutlich höher, aber spürbar intensiver sein werden als bisher und vermutlich früher im Jahr auftreten. Auch vor diesem Hintergrund müssen wir grundsätzlich überdenken, wie wir eigentlich mit dem Begriff Jahrhunderthochwasser umgehen wollen. Dieser Begriff ist bedeutsam, weil sich die Bemessung unseres Hochwasserschutzes maßgeblich daran orientiert. Das heißt, wenn wir dabei von falschen Entwicklungen ausgehen, was wir im Augenblick offensichtlich tun, dann wird auch unser Hochwasserschutz falsch dimensioniert.

Deshalb ist es auch aus wissenschaftlicher Perspektive wichtig, dass wir darüber nachdenken, wie wir – insbesondere in einer sich durch die globale Erwärmung sehr dynamisch verändernden Welt – Hundertjährlichkeiten eigentlich bestimmen wollen. Das, was wir im Augenblick als 100-jährliches Hochwasser beschreiben, kann Mitte des 21. Jahrhunderts nur noch ein 30-jährliches Hochwasser sein. Die Häufung, einhergehend mit der höheren Intensität, wird eine ganz große Rolle dabei spielen, dass wir mit den Begrifflichkeiten nicht mehr wirklich gut arbeiten können.

In welchen Bereichen ist die Anpassung an künftige Szenarien besonders schwierig?

Matthias Garschagen: Eine der großen ungelösten Fragen ist beispielsweise, wie wir in der Zukunft mit Starkniederschlägen umgehen, weil diese überall auftreten können. Aus Befragungsdaten in unserem KARE-Projekt im Bayerischen Oberland wissen wir, dass viele Menschen von sich sagen, sie hätten mit Hochwasserrisiken nichts zu tun, weil sie in der Vergangenheit auch nie Hochwasserereignisse gehabt hätten. Durch den Klimawandel und die Veränderungen bei Starkniederschlägen und damit einhergehenden Sturzfluten kann das ein Trugschluss sein. Da kann es in Zukunft passieren, dass Keller und Erdgeschosse volllaufen, obwohl man das nie für möglich gehalten hätte. Und weil das überall auftreten kann, ist es gleichzeitig nicht möglich, großflächig davor zu schützen, wie etwa beim Hochwasserschutz an großen Flüssen. Das sind sicherlich Fragen, die uns vor Herausforderungen stellen.

Welche Maßnahmen sind denn mittel- und langfristig in Bayern erforderlich, um mit diesen Starkregen und Hochwasserereignissen umzugehen?

Garschagen: Das eine betrifft die Raumordnungsverfahren: Die große Frage ist, wie weisen wir zukünftig Flächen aus, wie bewerten wir Flächen? Welche Flächen könnten zukünftig vom Hochwasser betroffen sein oder großflächig dem Hochwasserschutz dienen? Da geht es beispielsweise um Hochwasserretentionsflächen oder um eine Neubewertung der momentan bebauten Flächen.

Da muss sich sicherlich einiges tun in Bayern. Wir brauchen deutlich mehr Flächen, die wir dem vorsorgenden Hochwasserschutz zur Verfügung stellen, damit Wasser abfließen und sich in Hochwasserlagen entfalten kann, um dann eben nicht in Siedlungen oder sehr hochwertige Kulturlandschaftsflächen hineinzulaufen. Wir müssen Flächen auch viel stärker multifunktional ausrichten, also etwa als landwirtschaftliche Fläche und für den Hochwasserschutz, das ist ganz entscheidend. Da müssen wir auch regulativ ansetzen und uns beispielsweise über Ausgleichszahlungen Gedanken machen. In Bayern hat man sich damit bisher sehr schwergetan und das eine gegen das andere ausgespielt. Das hat an anderen Orten besser funktioniert. Für den Hochwasserschutz am Rhein beispielsweise sind nach den großen Hochwasserereignissen in den 1990er-Jahren ganz dezidiert großflächig Hochwasserretentionsflächen ausgewiesen worden.

Und was können Kommunen tun?

Garschagen: Innerhalb der Kommunen sollte man im Rahmen der Bauleitplanung darüber nachdenken, wo das Wasser hin kann. Auch Kommunen könnten multifunktional denken und zum Beispiel Sportplätze oder Spielplätze gezielt als Retentionsflächen planen. Momentan versucht man eher, das Wasser herauszuhalten, aber in Zukunft wird man auch verstärkt innerhalb des Siedlungskörpers mit dem Wasser umgehen müssen. Gerade was Starkregenereignisse angeht, wären solche Maßnahmen günstiger als beispielsweise der sehr teure Umbau unterirdischer Kanalisationssysteme.

Ein weiterer Bereich betrifft den Gebäudeschutz, also auch die Vorsorge bei Unternehmen und Haushalten. Gibt es zum Beispiel überall hochwasserfeste Kellerfenster, sind Rückstauklappen wirklich vorhanden, haben Häuser in bedrohten Lagen Flutschottvorrichtungen oder Spundwände?

Porträtaufnahme von Prof. Dr. Ralf Ludwig

Ralf Ludwig ist Professor für Angewandte Physische Geographie und Umweltmodellierung am Department Geographie. | © LMU

Durch Überschwemmungen entstehen Milliardenschäden. Wie kann das finanziell gestemmt werden?

Garschagen: Es wird schon sehr lange über eine Pflichtversicherung nachgedacht, es wird auch schon von allen Seiten politisch gefordert. Es gibt gewisse Gründe, warum es das trotzdem noch nicht gibt, aber da müssen wir hin.

Wir müssen uns auch darüber Gedanken machen, wie die Kosten verteilt werden. Zum Beispiel das Kanalisationssystem einer mittelgroßen Kommune wie Garmisch-Partenkirchen oder Weilheim auf solche Extremniederschläge auszurichten und unterirdisch neu zu dimensionieren, ist unheimlich teuer. Hochwasserschutzverbauung im oberirdischen Bereich anzupassen, geht etwas besser, aber auch das ist sehr teuer. Wir werden es in der Zeit von zunehmend klammen kommunalen Kassen auch im reichen Bayern nicht schaffen, Schutzniveaus aufrechtzuerhalten, wie wir sie in der Vergangenheit hatten. Wir müssen daher überlegen, wie wir noch vorsorgender Hochwasserlagen vermeiden können. Wo kommunaler Hochwasserschutz nicht mehr finanziell stemmbar oder technisch möglich ist, muss zunehmend auch über Gebäudeschutz nachgedacht werden, mit dem einzelne Objekte, zum Beispiel kritische Infrastruktur wie Altenheime, Pflegeheime und Krankenhäuser, hochwasserfest gemacht werden können.

Ludwig: Es ist klar, dass die Kosten, die auf uns zukommen, enorm sein werden. Aber es ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass sie noch sehr viel höher sein werden, wenn wir nicht handeln. Wenn solche Ereignisse, wie wir sie jetzt beobachten konnten, zukünftig in einem wesentlich dichteren Rhythmus, noch extremer, noch großflächiger auftreten, dann wird das zu großen volkswirtschaftlichen Belastungen führen. Wenn wir uns jetzt wappnen und dafür das entsprechende Geld in die Hand nehmen müssen, ist das eine sehr lohnende, sehr wichtige und vielleicht sogar ganz zentrale Investition in die Zukunft.

Können Sie denn schon abschätzen, an welche Szenarien wir uns anpassen müssen?

Garschagen: In Deutschland ist von der Planung vorgegeben, dass zumindest für die großen Fließgewässer Hochwasseranalysen erstellt werden sollen, sowohl für ein 100-jährliches Ereignis als auch für ein Extremereignis. Für die von 100-jährlichen Hochwassern gefährdeten Gebiete gibt es sehr strikte bauliche Vorgaben. Das haben wir für die extremen Hochwasser nicht, und es wurde lange gesagt, es ist zu teuer, das alles mitzudenken. Jetzt merkt man, dass diese Extreme kommen, und zwar zügiger und heftiger als gedacht. Sie könnten auch in Kommunen wie Garmisch-Partenkirchen – die eigentlich sehr erfolgreich Hochwasserschutz betreiben und viel investiert haben, um sich gegen 100-jährliche Hochwasser zu schützen – einen erheblichen Teil der bebauten Fläche betreffen. Darauf müssen wir uns einstellen.

Die Bemessungsgrundlagen, die wir in der Vergangenheit hatten, werden in Zukunft nicht mehr zählen. In der Vergangenheit gab es die grundsätzliche Annahme, dass Natur stabil ist und dass man anhand eines 100-jährlichen Hochwassers als Bemessungsgrundlage eine klare Linie ziehen kann, welche Flächen Hochwasserflächen sind und welche nicht. Diese Klarheit verschwindet in der Zukunft.

Ludwig: Man darf auf keinen Fall die Augen davor verschließen, dass die Extreme zunehmen werden. Wenn man zu berechnen versucht, was physikalisch maximal möglich ist, kommt man schnell zur Erkenntnis, dass man einfach nicht alles schützen und nicht alles versichern kann.

Prof. Dr. Matthias Garschagen ist Geographieprofessor an der LMU.

Professor Matthias Garschagen ist Inhaber des Lehrstuhls für Anthropogeographie mit dem Schwerpunkt Mensch-Umwelt-Beziehungen am Department Geographie. | © LMU

Welche Konsequenzen sollten aus dieser Erkenntnis gezogen werden?

Garschagen: Wir sollten nicht bei der Modellierung und Vorhersage von zukünftigen Szenarien stoppen, sondern sofort mitdenken, was die Ergebnisse für mögliche Maßnahmen bedeuten. Es sollte klar sein, wo die Verantwortlichkeiten liegen, aber auch, wo die Grenzen dessen zu erwarten sind, was vor allem auch Kommunen leisten können. Für 100-jährliche Hochwasser haben wir für die Fließgewässer formelle Karten, die auch in die Planung eingehen und die Bürger einsehen können. Für Gefahrenkarten zu extremen Niederschlägen und Sturzfluten gibt es kein standardisiertes Verfahren. Wir haben im bayerischen Oberland über 70 Kommunen befragt, wie sie mit detaillierteren Karten zu Starkniederschlägen und Sturzfluten umgehen würden. Dabei äußerten mehr als zwei Drittel der Verantwortlichen Bedenken im Hinblick auf die Veröffentlichung solcher Karten, weil dann viele Ansprüche auf die Kommunen zukommen würden, die sie gar nicht leisten könnten.

In einigen Pilotregionen, für die sehr detaillierte Gefahrenkarten generiert und veröffentlicht wurden, hat es in der Folge für Anwohner in Hochrisikolagen Probleme mit der Elementarschutzversicherung gegeben. Also, wir müssen diese Verantwortlichkeiten und Absicherungen mitdenken und uns über notwendige Anpassungen auch im institutionellen und rechtlichen Bereich Gedanken machen, dann können wir gezielt auch zukünftig mit Szenarien Bewusstseinsbildung betreiben. Das beides muss Hand in Hand gehen.

Sollte man Siedlungen in Zukunft anders planen oder auch eventuell zurückbauen?

Garschagen: Wir werden sicherlich in Deutschland in Zukunft um die Diskussion von Rückbau nicht herumkommen. Diese Diskussion kommt immer mal wieder auf. Momentan sind wir institutionell sehr schlecht aufgestellt, das auch wirklich einzuführen. Als Beispiel kann man betrachten, was an der Ahr passiert ist: Dort gibt es sehr hohe Anreize, an gleicher Stelle wieder aufzubauen, nicht nur aus emotionalen und kulturellen Gründen, sondern auch aus Gründen des Bestandsschutzes, was etwa Baugenehmigungen angeht. Schlimmer noch, im Versicherungswesen gilt derzeit, dass das gezahlt wird, was auch vorher da war. Das heißt, wenn kein Hochwasserschutz im Keller vorhanden war, dann wird das auch später nicht gezahlt und müsste von den Betroffenen privat finanziert werden. Das könnten wir natürlich rechtlich regeln und umgestalten. Wir werden uns zukünftig in weiten Teilen schon die Frage stellen müssen, was lohnt sich noch zu schützen, was können wir noch schützen und wo wollen wir auch gezielt Anreize schaffen, zurückzubauen. Nur, dafür müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen auch geschaffen werden.

Also hat die Anpassung auch Grenzen?

Garschagen: Ja, und ich glaube, da greift die momentane Debatte noch viel zu kurz. Der Klimawandel zeigt sehr deutlich: Es gibt Grenzen der Anpassungsfähigkeit. Im hoch industrialisierten Deutschland fällt es uns sehr schwer anzuerkennen, dass gewisse Dinge nicht wegadaptiert werden können. Es wird unwiderrufliche Verluste geben, auch bei uns. Wir müssen uns an neue Realitäten anpassen und überlegen, wie damit umzugehen ist, wenn beispielsweise tatsächlich Teile einer Stadt nicht mehr wieder aufgebaut werden können oder wenn Kulturerbestätten für immer verloren gehen. Mit einem unwiederbringlichen Schaden können wir rechtlich momentan überhaupt nicht umgehen.

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